Interview: Hauptstadtjournalismus – was sind für Sie die Unterschiede zu früher, also zur Zeit vor dem Mauerfall?

Es gab vor der Einheit den Hauptstadt-Journalismus gleich dreimal. Den Bonner Hauptstadt-Journalismus, der sich letztlich als westdeutsch verstand, aber immer mit einem Lippenbekenntnis zur Einheit operierte. Bonn war ein Provisorium, das sich lange hielt und sich deshalb immer mehr als das politische Zentrum der Bundesrepublik Deutschland verstand. Dann gab es den Hauptstadt-Journalismus im Westteil Berlins, der bei aller notgedrungener Bereitschaft zur Anerkennung der Realitäten in Deutschland zu Recht die Einheit des Landes anmahnte und damit auch die Wiedergewinnung der Hauptstadtfunktion Berlins einforderte. Schließlich gab es den Hauptstadt-Journalismus der DDR, der auf der angeblichen Zweistaatlichkeit Deutschlands fußte und der den Ostteil Berlins trotz des Viermächte-Status zur Hautstadt der DDR hochstilisieren wollte.

Dann kam die Zäsur von 1989 und damit die Voraussetzung, dass Berlin wieder richtig Hauptstadt werden konnte. Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung sowie der Bundesrat nahmen ihren Sitz in Berlin. Hauptstadt-Journalismus ist deshalb heute Berichterstattung über die Aktivitäten dieser Verfassungsorgane des Bundes in Berlin. Das politische Zentrum der Bundesrepublik Deutschland ist jetzt hier. Darauf konzentriert sich der Hauptstadt-Journalismus, den man heute ganz deutlich unterscheiden muss von dem Berliner Journalismus, der über das Bundesland Berlin, also über Abgeordnetenhaus und Senat von Berlin, berichtet.

Manchmal hat diese Doppelung von Hauptstadtfunktion und Stadtstaatfunktion ulkige Folgen. Ich habe z.B. manchmal Zeitungsüberschriften falsch zugeordnet, wenn diese mit dem Begriff Berlin aufgemacht wurden.

Überdeutlich ist, dass der heutige Hauptstadt-Journalismus ganz andere Themen bewältigen muss als zur Zeit der Teilung, und das ist ja auch genau das, was wir gewollt haben.

Einige Journalisten aus dem Provisorium Bonn und einige, die schon immer von Berlin aus berichteten, haben sich sicherlich in die neue Welt des Hauptstadt-Journalismus herüber gerettet. Aber ich glaube, dass mehr Journalisten neu nach Berlin gekommen sind und nun vom Pressehaus aus arbeiten oder von ihren Redaktionen aus, die ihre Verlage oder Sender in der Hauptstadt eingerichtet haben. Das führte insgesamt zu einer Neuformierung des Hauptstadt-Journalismus.

Ist da der Tellerrand, über den dieser Hauptstadt-Journalismus schauen muss, ein bisschen größer geworden, im Vergleich zur Zeit vor der Einheit?

Der ist sehr viel größer geworden, und der muss heutzutage ja notwendigerweise auch international sein. Deutschland hat ein größeres Gewicht in Europa. Europa selbst ist größer geworden und ist doch nur Teil einer globalen Welt, über deren Entwicklungen sich Berlin als Hauptstadt ständig Gedanken machen muss. Die Einheit Deutschlands, die Einheit Europas in der Globalisierung, das ist etwas, das neu hinzugekommen ist. Ich erlebe das als eine massive Erweiterung der journalistischen Aufgabenstellung, die nur durch eine Erweiterung des journalistischen Pluralismus bewältigt werden kann. Das sind also ganz andere Dimensionen, gemessen an den Zeiten, in denen wir hier im wahrsten Sinne des Wortes eingemauert waren.

Wie sieht denn Berlin für Sie politisch heute aus?

Berlin als Stadt ist ein Faszinosum. Meine Frau und ich reisen ja viel. Wir waren im letzten Jahr z.B. drei Monate in New York. Für die Menschen, die wir da getroffen haben, entwickelt sich Berlin als Stadt einfach großartig. Da ist uns also eine Erhöhung der Attraktivität gelungen.

Was an Berlin als Stadt attraktiv ist, das sind die Unternehmen der Kreativwirtschaft, das kulturelle Leben, die Architektur, das multikulturelle Zusammenleben, vieles andere, was sich im Zusammenwachsen der Stadt neu ergeben hat. Der jetzige Regierende Bürgermeister spielt sehr gekonnt auf dieser Klaviatur und denkt dennoch darüber hinaus: an die Aufgaben Berlins als Wissenschaftsstandort, an die Notwendigkeit einer verbesserten Bildungspolitik, an die Förderung des Aufbaus neuer Industrien. Eine lebendige, auch kritische Berichterstattung über die Entwicklung Berlins als Stadt ist also auch ein wichtiger Teil des Hauptstadt-Journalismus. Aber er ist nicht sein Kern. Es sei denn, wir wollten eine Hauptstadt-Definition vornehmen, die sagt: Hauptstadt ist, alles in allem, die Metropole und ist das bunte Leben in ihr. Aber ich glaube, Sie fragten eher danach, wie ich den Hauptstadt-Journalismus in seiner Aufgabenstellung, die Bundespolitik kritisch zu bewerten und zu gewichten, beurteile.

Ja, vor allem würde ich gerne wissen, was Ihre Bewertung ist, wenn man nur den politischen Teil nimmt, auch der Berichterstattung?

Diesen Hauptstadt-Journalismus nehme ich, wie gesagt, als eine Erweiterung des thematischen Spektrums, in der Berichterstattung als erweiterten Pluralismus wahr und finde auch, dass beides der Stadt und dem Land gut tut. Ich begrüße die ganze Breite von intelligenten, weiter denkenden und kritischen Journalisten. Über sie kann man eigentlich nur froh sein. Vieles wird von ihnen sehr gut verarbeitet, aufbereitet und dargestellt. Der Leser, Zuhörer oder Zuschauer profitiert von der Vielfalt.

Allerdingsist man als Journalist heute ganz offensichtlich gezwungen, sich auch in Gruppen zu organisieren. Nicht, weil man muss; denn es will ja eigentlich jeder seine eigene Story haben. Aber anscheinend, um sich abzusichern und um an die politischen Topinformationen überhaupt heranzukommen. Ich höre, dass es im Hauptstadt-Journalismus ein ganz gerüttelt Maß an solchen Grüppchen gibt.

Aber das, was man früher ja immer dem Berliner Journalismus im Westteil der Stadt zugeordnet hat, das ‚Piefige‘, ist das Vergangenheit?

Ja, es sei denn, man bezeichnet genau dieses Grüppchenverhalten im heutigen Hauptstadt-Journalismus wiederum als piefig, sozusagen ‚new-piefig ‘. Aber darüber möchte ich eigentlich kein Urteil abgeben, weder inbezug auf frühere Zeiten, noch inbezug auf heute. Ich denke, Berlin als Hauptstadt arbeitet im journalistischen Bereich auf europäischem Standard. So weit, wie die Amerikaner mit ihrem „embedded journalism“ gegangen sind, sind wir mit unseren Grüppchen noch lange nicht.

Nein, den ‚embedded Journalist‘ gibt es hier, Gott sei Dank, ja noch nicht, wäre wohl auch nicht wünschenswert.

Ganz eindeutig nein, denn eine solche ‚Steuerung‘ birgt ganz große Gefahren. In einer Demokratie gibt es eine Mehrheit, die regiert, und es gibt die Chance für eine Minderheit, zur Mehrheit zu werden. Es ist also ein Journalismus gefordert, der eben nicht im Sinne einer etablierten Mehrheit allein berichtet, sondern der in der Lage ist, auch eine Wende herbeizuführen. Das ist für mich ein ganz wesentliches Element von Demokratie, bei der die Presse eine ganz entscheidende Rolle spielt.

Zum Thema Berliner Bankgeschichte damals und Bankskandalen weltweit heute.

Damals war es ein regionales Ereignis, heute ist es ein internationales Problem – sehen Sie da Parallelen, auch in der Wirkung natürlich?

Berlin hat als Antwort auf die Bankenkrise damals ein Abschirmungsgesetz gemacht. Man könnte sagen, dass Berlin Vorreiter war; denn heute haben Staaten weltweit Abschirmungsschirme aufgespannt.

Warum war das damals passiert?

Es waren sehr unterschiedliche Motive in Berlin. Entscheidend waren eine völlig unkritische Euphorie nach der Einheit und dadurch eben Geschäfte mit zu hohen Risiken.

Ich selbst kann für mich in Anspruch nehmen, nüchterner gewesen zu sein und verweise auf Reden im Deutschen Bundestag und in dessen Ausschuss ‚Deutsche Einheit‘, dem ich angehörte. Ich habe immer darauf hingewiesen, dass die Einheitswerdung wie die Hauptstadtwerdung ein Prozess von ein bis zwei Generationen sein wird, Und in dem stecken wir ja in der Tat immer noch drin.

Es ist damals auch schon aufgefallen, dass man sich plötzlich sehr wenig um West-Berlin gekümmert hat. Das war sicherlich gleich nach dem Mauerfall auch erst einmal richtig....

...nein, das war falsch. Ich gehöre zu denen, die Berlin noch als ungeteilte Stadt erlebt haben. Ich bin 1958 nach Berlin gekommen, ich habe also drei Jahre die Stadt in ihrer Ganzheit erlebt. Ich bin in Ost-Berlin in die Oper gegangen, ich habe die Humboldt-Universität erlebt, wo ich mich mit Kommunisten auseinandergesetzt habe. Für mich war die Mauer eine Abriegelung und konnte gar nicht zur Staatsgrenze werden, wie es einige im Westen mit der Zeit gewollt haben. Vielmehr mussten die Teile wieder zusammengeführt werden, das war eben das Ziel der Einheit, das für mich galt.

Ich finde, dass der Bund seine Aufgabe gegenüber dem geteilten Berlin insgesamt großartig erfüllt hat, solange der Westteil Berlins die Bedeutung hatte, den Anspruch der Bundesrepublik Deutschland auf die Einheit des Landes aufrechtzuerhalten.

Diese Bedeutung war für viele aber leider nur eine Alibi-Funktion, wenn Sie so wollen. Man konnte ja ruhigen Gewissens sagen: wir sind für die Einheit, solange man wusste, das sie ja doch wegen der Weltlage nicht kommen konnte.

Aber Berlin war als Mahnung immer da und brauchte die Hilfe des Bundes, um zu überleben. Diese Hilfe wurde durch all die Jahre auch gewährt.

Dann kam die Einheit über Nacht. Alles wird aufblühen und insbesondere Berlin, so wurde gedacht. Da brauchen wir das Berlinhilfegesetz nicht mehr. Wir können es von einem auf den anderen Tag aufgeben. Dieses Denken und Handeln war ein großer Fehler. Die Einheit hat zwar in der Stadt zu Recht diese Euphorie erzeugt, aber das sofortige Aufgeben des Berlinhilfegesetzes war, gemessen an den wirtschaftlichen Realitäten, im Ergebnis grundfalsch und hat der Stadt die Einheitswerdung sehr erschwert. Man muss sich nur vergegenwärtigen, dass keine deutsche Gebietskörperschaft unter den Lasten der Teilung mehr gelitten hat als Berlin. Deshalb braucht Berlin auch eine längere Zeit, um damit fertig zu werden.

Ich finde persönlich, dass die Stadt jetzt auf einem guten Weg ist, wir werden sogar wieder Industrie bekommen, eine moderne Industrie, so hoffe ich.

Sie sind als Regierender Bürgermeister ja auch Objekt der Berichterstattung gewesen, wie waren Ihre Erfahrungen?

Ich war Objekt und ich habe mich manchmal unfair behandelt gefühlt. Aber ich war durchaus auch ein Handelnder. Ich war einer, der versucht hat, durch seine eigene Pressearbeit Einfluss zu nehmen, auf das, was geschrieben wurde.

Sind Sie eigentlich immer mit den Medien fair umgegangen?

Wahrscheinlich nicht. Je mehr man nämlich politisch und in den Medien unter Druck gerät, je mehr sucht man sich bei seiner Pressearbeit diejenigen Journalisten aus, von denen man glaubt, sie würden einen schon gut bewerten. Denen gibst Du dann vielleicht eher vertrauliche Informationen und die anderen lässt du aus. Auch der Pressesprecher hat da ein gutes Stück Arbeit zu leisten.

Hatten Sie als Regierender Bürgermeister das Gefühl: mit diesem Amt kann ich etwas verändern – oder hat es eher Sie verändert?

Also beide Prozesse sind gelaufen. Man konnte etwas verändern und das hat sehr viel Freude gemacht. Sie dürfen nicht vergessen, die Länderchefs nehmen ja auch an der Bundespolitik teil. Ich war vorher Bundessenator gewesen und konnte mich mit den anderen Kollegen immer gut abstimmen und hatte als Berliner da auch einen guten Stand.

Ja, man kann etwas verändern und man verändert sich selbst.

Wenn man jung ist, dann will man etwas erreichen, will etwas durchsetzen. Nicht mit dem Kopf durch die Wand, ich war immer besonnen. Aber ich hatte in dem Alter keinen geschärften Blick für die Gefahren, insbesondere die Gefahren aus den eigenen Reihen. Ich habe nicht gesehen, dass da schon eine Reihe von Mitstreitern war, die dachten, was der Stobbe kann, das kann ich auch. Also auf den Parteitagen hat man gesungen „wir schreiten Seit an Seit“, aber es gab viele...

 ... die eine andere Seite gemeint haben?

...ja. Und das war eine dieser Sachen: ich glaube, da habe ich mich nicht genug distanziert zu bestimmten Menschen verhalten. Das klingt jetzt vielleicht merkwürdig, aber man muss fähig sein, eben nicht nur die Sache, sondern auch die heimlichen Ziele und Ambitionen der Mitstreiter wahrzunehmen und richtig zu interpretieren. Das habe ich damals, glaube ich, nicht genügend berücksichtigt.

Aber beschreiben Sie nicht eigentlich gerade, wie sehr Sie auch mit dem Herzen dabei waren?

Ja, genau, aber das ist es gerade, was ich damit meine. Ich hatte ein politisches Sachkonzept für die Stadtpolitik und habe dafür mit aller Leidenschaft gekämpft, aber ich hatte vielleicht die Gefahren nicht immer erkannt, die an allen Ecken lauerten. Man rennt dann in bestimmte Dinge hinein. Ich konnte mir genau vorstellen, welche Politik für Berlin auf der Ebene der Entspannung zwischen Ost und West und welche Stadtpolitik für den Westteil Berlins gemacht werden musste, um dieses einzigartige Gemeinwesen über die Runden des Ost-West-Schismas zu bringen, bis dieses eines Tages überwunden sein würde.

Man muss dann in den Verfassungsorganen um die Durchsetzung dieser Konzeptionen ringen und diese Konzeptionen dürfen im Ergebnis nie das sein, was die anderen einem aufzwingen wollen. Dabei hatte ich, so glaube ich, Erfolg. Aber in der Implementierung von Sachkonzepten verkehren sich oft die Fronten. Es tauchen völlig unerwartete Gegnerschaften auf, wie z.B. bei den Sanierungskonzepten für die Berliner Innenstadtbezirke die Hausbesetzer. Dies nur als Beispiel.

Solche Widerstände gegen die Durchsetzung von Sachkonzepten werden dann von innerparteilichen Gegnern genutzt und gegen einen ausgespielt. Diese Gefahren habe ich unterschätzt.