Ein Glücksfall meines Lebens

Von Manfred Stolpe

Vor einem Jahr hat uns Dietrich Stobbe verlassen, der Verlust schmerzt mich noch immer sehr. Denn es gehörte zu den Glücksfällen meines Lebens, Dietrich Stobbe zu begegnen. Er war für mich ein treuer Freund und wichtiger politischer Wegbegleiter. Wir lernten uns kennen, als er frei von Last und Undank politischer Ämter, aber voller für mich wertvoller Erfahrungen in dem Politik- und Wirtschaftssystem West war.

Winfried Staar hat den Kontakt vermittelt und ich konnte den ehemaligen Regierenden Bürgermeister Stobbe in Potsdam begrüßen. In guter Erinnerung bleibt ein langes Gespräch in meiner Wohnung mit Dietrich, Ilse und Michael Stobbe im Juli 1984. Wir tauschten unsere Ost-West-Erfahrungen aus, bemühten uns, die jeweils andere Sichtweise zu verstehen und zu tolerieren. Wir erlebten, wie wichtig es ist, miteinander zu reden, zuzuhören, unsere Horizonte zu erkennen und beglückende Gemeinsamkeiten zu erfahren. Dietrich Stobbe brachte seine Erfahrungen aus dem mir fremden Westberlin mit. Die andersartigen Strukturen, sozialen Gegebenheiten und politischen Kämpfe hat Stobbe 1977 als Regierender Bürgermeister von Berlin-West angepackt, hat mutige Reformen gestartet und war dann 1981 dem Filz und Intrigen erlegen. Das hat ihn verletzt, aber auch gehärtet und seine Erfahrungen waren für mich ein erster Intensivkurs über die freie Welt im Westen Deutschlands. Damals noch theoretisch, nach der Wiedervereinigung mit direkter Betroffenheit. Hochinteressant waren für mich Stobbes US-Erfahrungen, die er Anfang der 1980er Jahre als Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in New York sammeln konnte. Das war für mich als reise- und erfahrungsbehinderter DDR-Bürger eine andere Sicht auf das Politik- und Wirtschaftsgefüge in den USA, ein beginnendes Verständnis für dort gegebene Handlungszwänge und globale Zusammenhänge.

Dietrich Stobbe stieß für mich Fenster auf und blieb mir bis zu seinem Ableben ein wichtiger Berater in deutscher und internationaler Politik. Andere hätten diese Rolle ausgelebt, sich bewundern lassen und uns aus ihrem Horizont beurteilt. So war Dietrich Stobbe nicht. Er brannte darauf, das Leben in der DDR kennenzulernen und zu verstehen. Er konnte zuhören und suchte das Gespräch mit Menschen verschiedener Lebensbereiche und Auffassungen. Gern habe ich ihm den Zugang zu kirchlichen Gesprächsgruppen vermittelt. Sie waren in der DDR offene Diskussionsrunden von Menschen quer durch die Gesellschaft und Anschauungen. Hier schlug der wirkliche Puls der sogenannten sozialistischen Gesellschaft.

Gemeinsam mit seiner damaligen Frau Ilse sowie Winfried und Ruth Staar waren wir häufig unterwegs in Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern. Es waren viele Gesprächsrunden und Einzelbegegnungen. Selten habe ich einen so interessierten und unvoreingenommenen Westbesucher begleitet. Dietrich Stobbe lernte dabei viele Lebenswege, Bedrängungen und Hoffnungen kennen. Gern vermittelte er auch aus seinen westdeutschen und internationalen Erfahrungen und erlebte dabei stark interessierte Zuhörer.

Das waren wirkliche deutsch-deutsche Gespräche auf Augenhöhe, von denen es viel zu wenige gab, um Vorurteile und Missverständnisse abzubauen. Das brauchen wir auch noch heute und dabei fehlt uns einer wie Dietrich Stobbe.

Seine Reisen blieben der DDR-Staatsmacht nicht verborgen. Umfangreiche Akten der Staatssicherheit über Dietrich Stobbe und Winfried Staar trugen Daten, Gesprächsfetzen und verworrene Einschätzungen zusammen. Stobbe wurde nicht als aggressiver DDR-Feind beurteilt, aber seine Offenheit, fröhliche Unbefangenheit und Durchschaubarkeit machten die Bewacher ratlos und vielleicht auch nachdenklich. Denn das war nicht das Bild eines westlichen Klassenfeindes, sondern eines deutschen Mitmenschen, der nicht Gegensätze, sondern Gemeinsamkeiten suchte. Das hat Dietrich Stobbe dann auch bei seinen Begegnungen mit DDR-Staatsfunktionären direkt ausgedrückt. Zum Beispiel am Rande der großen Weihnachts-Chor-Konzerte in Potsdam.

Dietrich Stobbe hat uns in der DDR verstanden, respektiert und zu neuen Wegen ermutigt. Er hat viele Menschen zum aufrechten Gang und zur Änderung der Verhältnisse ermutigt und so einen wichtigen Beitrag zur friedlichen Revolution geleistet. Nach dem Fall der Mauer hat Dietrich Stobbe als Bundestagsabgeordneter und als Mitglied im Ausschuss Deutsche Einheit die Wiedervereinigung gestaltet. Seinen politischen Freunden in der frei gewählten Volkskammer war er ein wichtiger Helfer, sich in der für sie neuen Welt West zu behaupten.

Dietrich Stobbe fehlt uns. Sein warmherziges, fröhlich-charmantes Wesen gewann Herzen und öffnete Horizonte. Er hat Verständnis geweckt, Menschen zusammengebracht, Brücken gebaut. Das bleibt, das wird nicht vergessen und das müssen wir fortführen.

Danke Dietrich Stobbe.

Potsdam, 19. Februar 2012