Bundestagsreden zur Deutschen Einheit

Dietrich Stobbe: Erstaunliches ist passiert in dieser Fraktion!

"Ich finde es wichtig, dass sich der Deutsche Bundestag am 17.März 2000 mit den ersten freien Wahlen in der DDR zur Volkskammer vor zehn Jahren beschäftigt. Ich hoffe, dass diese Trennungsstunde zum Ausgangspunkt für eine intensive politische, publizistische und, was wichtig wäre, auch wissenschaftliche Auseinandersetzung über die Prozesse führt, die die deutsche Einigung möglich gemacht haben..."

Rede von Dietrich Stobbe, ehemaliger Beauftragter des Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion für die Zusammenarbeit mit der Volkskammerfraktion, auf dem Treffen der SPD-Bundestagsfraktion mit den Mitgliedern der SPD-Volkskammerfraktion am 16. März 2000

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Dietrich Stobbe: Die Einheit gibt es nicht kostenlos

„Der Gedanke der Einheit fordert von beiden deutschen Regierungen die gesamtdeutsche Verantwortbarkeit für das, was beschlossen wird, höher zu stellen als Einzelinteressen der beiden deutschen Staaten. Das wirkt nach beiden Seiten, meine Damen und Herren. Es ist klar: die Bundesrepublik ist, was das Materielle angeht, in der Position des Gebers. Aber auch sie darf selbstverständlich nicht überfordert werden. Das setzt Grenzen für das, was verlangt wird.

Aber auch umgekehrt wird ein Schuh daraus. Es wäre nicht richtig, wenn wir den Eindruck erweckten, als gäbe es die Einheit kostenlos (…). Wir stehen auch in der Verpflichtung, den Deutschen in der Bundesrepublik zu sagen, dass die Menschen in der DDR einen historischen Anspruch darauf haben, dass ihnen von uns anständig geholfen wird.“

Plenarsitzung des Deutschen Bundestages, 27. April 1990

 

Dietrich Stobbe: Keine Illusionen wecken

„Wir stehen vor der riesengroßen Aufgabe, einheitliche Lebensverhältnisse und Lebenschancen für alle Menschen in Deutschland zu schaffen. Diese Aufgabe verlangt von allen Bürgern Opfer und Leistungsbereitschaft. Sie verlangt Verständnis und vor allem Solidarität. Die Politik hat die Aufgabe, berechenbare Rahmenbedingungen zu schaffen, die auf einem breiten, gesamtgesellschaftlichen Konsens beruhen sollten, Herr Bundeskanzler. Diesen Konsens kann man nur durch das Sachgespräch zwischen den politischen Kräften im Lande und anderen beteiligten Kräften herstellen.

Wer wie ich im fast täglichen Umgang mit den Menschen in der DDR seit dem 9. November miterlebt hat, was auf den Straßen in Leipzig, in Berlin und in anderen Städten der DDR so großartig begann, wer miterlebt hat, wie diese Entwicklung die Köpfe und Herzen unserer Mitbürger mit Freude und mit Hoffnung erfüllt hat, der weiß auch, dass die Bereitschaft zum gesamtstaatlichen Konsens und zur Solidarität in jenen Tagen und Wochen lebendig empfunden und auch praktiziert wurde. Doch wo am Anfang Freude und Zuversicht herrschten, machen sich jetzt Sorgen und Ängste breit, Herr Bundeskanzler (…). Die Bürger in der Bundesrepublik wissen ganz genau, dass die Einheit teurer wird als Sie vorgeben, Herr Bundeskanzler. Sie vernebeln nicht nur die Kosten, sondern Sie haben auch bewusst Illusionen geweckt. Statt den Menschen klar und deutlich zu sagen, dass mit der Umstellung der Wirtschaft in der DDR erhebliche soziale Risiken verbunden sind, haben Sie die Menschen in dem Glauben gelassen, die soziale Marktwirtschaft könne über Nacht Wunder bewirken“.

Plenarsitzung des Deutschen Bundestages, 9. August 1990

 

Dietrich Stobbe: Gestaltung der Einheit als Aufgabe für Jahrzehnte

„Es ist meine feste Überzeugung, dass es keine wahre innere Einigung der Deutschen ohne Vertrauen und kein Vertrauen ohne soziale Gerechtigkeit geben wird. Wir müssen deshalb vor einem Missverständnis warnen: mit dem Beitritt der DDR bekommen wir nicht etwa nur eine vergrößerte Bundesrepublik. Vielmehr müssen wir unsere Vorstellungen von Demokratie und Sozialer Marktwirtschaft weiterentwickeln. Hier liegt die eigentliche Chance der deutschen Einheit. (…) Von den Deutschen wird nach Vollendung der staatlichen Einheit am 3. Oktober noch mehr verlangt als die Gestaltung der neuen, gesellschaftlichen Solidarität. An dem Tag müssen wir laut und deutlich sagen, dass wir ein Deutschland der Solidarität auch mit unseren Nachbarn wollen. Diese muss sich insbesondere mit den jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas sowie der sich demokratisierenden Sowjetunion beweisen. Diese Solidarität muss so gestaltet werden, dass sie jederzeit ein Beitrag für die Entwicklung eines geeinten Europas ist (…) Am 3. Oktober, wenn wir uns alle freuen werden, dass die staatliche Einheit erreicht wurde, ist eben nicht alles vorbei und fertig für unsere Demokratie. Die Wahrheit ist, dass unsere Arbeit in politischer Auseinandersetzung um die Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse, wie dies unser Grundgesetz verlangt, dann erst beginnt. Diese Arbeit wird Jahrzehnte dauern.“

Plenarsitzung des Deutschen Bundestages, 20. September 1990

 

Daniel Friedrich Sturm: Uneinig in die Einigkeit. Stobbe als Manager der Kooperation zwischen West- und Ost-SPD

Stobbe gelang es derweil immer wieder, Kommunikationsprobleme zwischen Bonn und Ost-Berlin zu überwinden. (…) Stobbe bekleidete einen Posten, auf dem er kaum den Eindruck vermeiden konnte, den Parteifreunden in der DDR „Nachhilfeunterricht“ zu geben. Dies gelang ihm jedoch ohne eine besserwisserische Attitüde. Zudem besaß Stobbe Planungsgeschick. Er managte die Kooperation zwischen SPD und Ost-SPD mit hohem Einsatz und Sensibilität. Damit war ein reibungsloser Ablauf jedoch nicht garantiert. Widerstände und Spannungen gehören zum politischen Geschäft, zumal unter Parteifreunden in einer Phase von Herausforderungen. Stobbe konnte hier manchen Konflikt verhindern beziehungsweise mildern. Weitsichtig prognostizierte er die Probleme seiner Partei im Wahljahr.

So verlangte Stobbe im Frühjahr 1990, die SPD in West und Ost habe bei den Verhandlungen zur Vereinigung gemeinsame Positionen einzunehmen. “Damit stehen wir vor der enormen Aufgabe, Regierungshandeln der SPD in der DDR und Oppositionshandeln der SPD in den Bundesrepublik herzustellen“.

aus: Sturm, Daniel Friedrich: Uneinig in die Einigkeit, Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90 , Bonn 2006